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„Keinen Hass, keine Rache.“

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Die ergreifenden Fotoporträts Holocaust-Überlebender von Martin Schoeller in Essen

„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“ ist eine Aussage Theodor W. Adornos aus seinem Aufsatz ‘Kulturkritik und Gesellschaft’, der 1951 erstmals veröffentlicht wurde. Und der Verfasser dieser Zeilen fragt sich ernsthaft, ob nicht ein Klügerer als er würdiger wäre, über die 75 Fotoporträts Survivors des deutschen Fotografen Martin Schoeller zu schreiben. 75 jüdische Überlebende, 75 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945.

Die 150 Augen der Holocaust-Survivors schauen den Betrachter im Gebäude der Kokerei Areal C direkt an. Der Strahlkraft der Blicke derer, die der Hölle von Auschwitz entkommen sind, kann sich niemand entziehen. Die Gesichter in den weißen Bilderrahmen an den grauen Kokerei-Wänden erzeugen in den imposanten Räumen eine Wirkungskraft, die zu Stille und Einkehr gemahnen. Mein Besuch im Weltkulturerbe Zollverein Areal C (Kokerei) war nicht nur für mich als Porträtfotograf Pflicht, sondern auch die als direkter Nachfahre der Tätergeneration.

Schoeller Studio

Martin Schoeller 2019, © Martin Schoeller Studio

Martin Schoellers ‘Big-Head’-Ästhetik und die damit verbundene Lichtregie mittels zweier paralleler Neon-Striplights – ein Selbstbau bestehend aus je vier vertikal angeordneter Neonröhren – ist bekannt aus seinen Hollywood Glamourporträts. Im Falle der Holocaust-Überlebenden betonen sie deren Augen, die fern von Hass auf die Betrachter gerichtet sind. „Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst. Das ist es, was unsere Torah uns aufträgt. Hasse nicht. Räche dich nicht. Das führt nur zu mehr Blutvergießen,“ so Rabbi Israel Meir Lau. Chana Arnon (*1939, NL_Leeuwarden): „Die Menschen müssen an der Hoffnung und an den Werten der liberalen Demokratie festhalten und sicherstellen, dass für die Schwächsten unter uns gesorgt ist.“

 

Hannah Goslar Pick 2019, © Martin Schoeller

Hannah Goslar Pick 2019, © Martin Schoeller

Schoellers Arbeitsweise und Umgang mit den Portraitierten in Jerusalem wird in einem 15 minütigem Making-of-Video in einer der sieben Kokerei-‘Galerien’ gezeigt. Die Zeche Zollverein hat ihre eigene NS-Geschichte. 175 sowjetische Kriegsgefangene, 373 Kriegsgefangene aus anderen Ländern sowie 221 sogenannte ‘Ostarbeiter’ mussten schwerste Grubenarbeiten verrichten. Auf dem Gelände der späteren Kokerei befand sich 1944 eins der örtlichen Kriegsgefangenenlager.

Avner Shalev, Vorsitzender der internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem: „ … Die bezwingenden Porträts … fangen die durch die Vergangenheit geprägten Gesichter von Menschen ein, die die Gräueltaten des Holocaust überlebten. Die bemerkenswerten Fotografien von Martin Schoeller ermöglichen uns, in ihren Augen nach Spuren dessen zu suchen, was sie durchlebt haben, und uns von ihrer Widerstandsfähigkeit und Stärke inspirieren zu lassen.“

Ausstellung "Survivors" in der Mischanlage der Kokerei Zollverein. Foto, im Auftrag der Stiftung Zollverein, Jochen Tack.

Ausstellung “Survivors” in der Mischanlage der Kokerei Zollverein. Foto, im Auftrag der Stiftung Zollverein, Jochen Tack.

Zur Ausstellung gibt es ein Fotobuch im Steidl Verlag mit den 75 Portraits und zugehörigen Biografien sowie einem Vorwort von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck:

„ … Wir schauen nun – all die Jahre nach dem großen Verbrechen – in die Gesichter von Menschen, die nicht verschlungen worden sind von der Tötungsmaschinerie. Wir sehen in die Augen der Menschen, die vom Schmerz oder vom Glück des Überlebens erzählen – wir sehen die lebensgeprägten Gesichter, vergleichen sie mit den Gesichtern der Alten aus unseren Familien, ahnen wenig davon, welche Erfahrungen welche Falten geprägt haben und freuen uns über all die Jahre, die über die Gesichter dieser Menschen haben gehen dürfen. Wie gern hätten wir auch das alte Gesicht von Anne Frank gesehen, das uralte von Edith Stein!

Mit solchen Gedanken und Gefühlen ist uns ein Augenblick der Begegnung zuteil geworden. Wir kennen diese Menschen nicht, aber wir dürfen dem Künstler, der sie porträtierte, danken. Er hat sie in ihrer Besonderheit erkannt, und so vor unsere Augen gebracht, dass wir ein Gespräch beginnen können – mit ihnen und mit uns selber.“ …

Zum Thema sind zahlreiche Bücher und Fotoserien erschienen. Bekannt sind vor allem die Jüdischen Portraits von Herlinde Koelbl. Mit großer Sensibilität hat sie deutschsprachige Juden fotografiert, die der Shoah entkommen sind. 2019 hat Konrad Rufus Müller den Bildband ‘Unfassbare Wunder’ mit 24 Portraits herausgebracht. Sehr intensiv sind auch die großformatigen Gegen das Vergessen-Portraits des Mannheimer Fotografen Luigi Toscano, die 2015/16 weltweit gezeigt wurden.

UNESCO-Welterbe Zollverein Areal C (Kokerei)
Mischanlage Arendahls Wiese 45309 Essen

22. Januar bis 26. April 2020
täglich von 11.00-17.00 Uhr

Eintritt:
Nach eigenem Ermessen

www.zollverein.de

„SURVIVORS“ ist ein Projekt der Stiftung für Kunst und Kultur Bonn und der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Kooperation mit der Stiftung Zollverein und dem Ruhr Museum. Kuratorinnen sind Anke Degenhard und Vivian Uria.

Das Projekt wurde initiiert vom deutschen Freundeskreis von Yad Vashem unter Kai Diekmann, ehemaliger Bild-Chefredakteur, und wird unterstützt und finanziert von der RAG-Stiftung. Die Portraits sind weltweit erstmalig auf Zollverein zu sehen.

Text: Hartmut Bühler


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