In Oberhausen hat Die Zukunft schon begonnen.
Aller guten Dinge sind drei. „Grau – nur dreimal im Jahr eine klare Sicht“, so beschrieb Rudolf Hermann Holtappel (* 03.01.1923 Münster † 21.11.2013 in Duisburg) das Ruhrgebiet. Und es werden wenigstens drei ‘Schubladen’ benötigt, um das umfassende Werk des ausgebildeten Fotografen (Meisterbrief erlangt am 24.02.1950 vor der Handwerkskammer in Düsseldorf) grob zu sortieren.
Rudolf Holtappel, Oberhausen vor Zeche Sterkrade, 1960 © Rudolf Holtappel, Nachlass LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen.
‘Ruhrgebietschronist Theaterdokumentarist Warenhausfotograf – eine fotografische Werkschau von 1950 bis 2013’. So untertitelt denn auch die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen ihre aktuelle Ausstellung über RUDOLF HOLTAPPEL – Die Zukunft hat schon begonnen. Das gewählte Motto ist verbunden mit Augenzwinkern und mehrdeutig. Ausgangspunkt der auf drei Ebenen gezeigten Werkschau in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen ist ein Foto von 1966/67, das RH Die Zukunft hat schon begonnen benennt.
‘Während einer Auslieferung von Waren für Karstadt begegnen Holtappel auf einem Bauernhof gerupfte Gänse auf der Leine. In der Bildmitte stolziert ein Huhn vorbei. Der Titel Die Zukunft hat schon begonnen ist wegen seiner Offenheit auch zum Titel der Ausstellung geworden. Was sich hier auf das Schicksal des Huhnes bezieht, kann Gedanken über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anregen. Wie schnell sich die Zukunft verändern kann, zeigt auch die jetzige Situation, in der wir uns befinden. Es zeigt sich Holtappels humorvolle Titelgabe’ (so Bildtext zum Abzug vom Negativ, Lambda-Print). Und offenbart Selbstbewusstsein. RH: „Ich fotografiere nicht für die Wand, ich mache Aufmacherbilder.“
Rudolf Holtappel, Megaperlfabrik, Henkel, 2000 © Konzernarchiv Henkel AG & Co. KGaA
Holtappel verstand es auch, weiße wie ‘schmutzige Wäsche’ zu fotografieren. Frisch gewaschenes vor qualmenden Schloten und Industrieanlagen, möglichst mit Persil behandelt – siehe auch Holtappels Einsätze für den Henkel-Konzern in Düsseldorf – oder die zur regionalen Klatschikone gewordene Straßenszene in der Marktstraße in Oberhausen von 1971. Diese zeigt ein Paar von hinten. Sie in Hotpants, er trägt schütteres Haar. Beäugt werden die Zwei wiederum von einem Paar, sie mit Kopftuch, das direkt auf den Fotografen zuläuft.
Rudolf Holtappel, Marktstraße, Oberhausen, 1971 © Rudolf Holtappel, Nachlass LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen.
Laut Kuratorin Miriam Hüning habe ‘halb Oberhausen’ das auffällige Paar gekannt und Holtappel große Mühe verwenden müssen, das Foto zu veröffentlichen. Hauptgrund: die Angst der Hotpants-Lady vor einer zornigen Großmutter. Aber RH war kein Paparazzo, vielmehr sind, so Hüning, die meisten scheinbaren Schnappschüsse durchaus geplant gewesen.
Begeisternd ein anderes Foto aus der Marktstraße von 1960. Es zeigt ein unscharfes, aber dennoch den Betrachter hypnotisierendes Gesicht am rechten unteren Bildrand. Selbstredend entwickelte RH seine Fotos eigenhändig im hauseigenen Labor, wo er auch die Abzüge erstellt hat.
Rudolf Holtappel, Essener Straße mit HOAG, Oberhausen, 1960 © Rudolf Holtappel, Nachlass LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen.
Obwohl wir beim Betrachten der Holtappel-Fotos in die Vergangenheit sehen, dürfen wir auch mal in die post Corona Zukunft blicken und uns vorstellen, welch spannenden Fotos RH heute in der Marktstraße in Oberhausen vor wieder geöffneten Friseurgeschäften oder Kaufhäusern gemacht hätte.
Perfekt passend zur heutigen Situation das Foto ‘Zukunftschancen?’ Aufgenommen 1977 in Paris, zeigt es eine Wahrsagerin, die aus der Hand ‘liest’. Mit diesem Motiv gewann RH 1978 den Preis Work and leisure. Das Foto wurde in eine Ausstellung der Vereinten Nationen in New York aufgenommen und auch auf der Photokina in Köln gezeigt.
Holtappel beherrschte die Klaviatur fast aller fotografischen Themen. Das beinhaltet Bilder von Hochöfen, Hinterhöfen, Arbeit unter Tage, Trinkhallen, Streikenden, Schrebergärten, Spaziergängern, Skatspielern, Tauben züchten, Einkaufsszenen, Kindern: ganz allgemein vom absurd-grotesken Theater des Lebens bis zu den dramatisch inszenierten Dramen auf den Bühnen des klassischen Theaters.
Rudolf Holtappel, Emil und die Detektive, Szenenfoto mit Herrn Grundeis, 1966 © Rudolf Holtappel, Stadtarchiv Oberhausen.
Fürs Theater Oberhausen in der Ära Klaus Weise und der Ära Günther Büch erstellte er die Fotos fürs Schaufenster und die Programme. Berückend sind die Portraits von Schauspielregisseur Günther Büch aus den 1960er Jahren. Übrigens: 1992 hat Klaus Weise, damals Anfang 40, den fast 70jährigen Holtappel gebeten, erneut fürs Theater Oberhausen zur Kamera zu greifen. Ja, so ‘geht’ Wertschätzung.
Das wohl schönste Lob über den von Empathie und Menschlichkeit geprägten Wahl-Oberhausener stammt von Volker Krug, damals verantwortlich für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Firma Henkel: “Der Mensch als Mittelpunkt des Geschehens, als Motor aller Prozesse und Projekte, als Individuum und charaktervolle Persönlichkeit, das war stets die Triebfeder für Holtappels fotografisches Suchen.“
Rudolf Holtappel, Die Möwe, 1994 © Rudolf Holtappel, Stadtarchiv Oberhausen.
Doch Holtappel fotografierte nicht nur im Pott den Pott. Er besuchte u. a. Paris, London und New York. Auch da gelingen ihm Bilder, die seine Könnerschaft bestätigen. Exemplarisch das Portrait eines elegant gekleideten Herrn mit Sonnenbrille auf einer Bank, der sich wie ein Pfau präsentiert; 5thAvenue in New York (1980). Dennoch stellt er ihn nicht ‘bloß’, relativiert seine Eitelkeit durch Passantinnen rechts und einer ‘angeschnittenen’ Person links.
Bei allem was er aufnahm: immer hielt er auf Abstand, sah sich aber stets als ‘teilnehmender Chronist’. Holtappel gilt längst als bedeutendster Oberhausener Fotograf des 20. Jahrhundert und ist ein Klassiker der Ruhrgebietsfotografie. Diese Liebe war sein Lebensthema. Während eines Urlaubs in den Tiroler Bergen fragte er seine Ehefrau Herta: „Was soll ich denn hier fotografieren?“
2017 kaufte die Stadt Oberhausen von seiner Familie das noch in seiner Wohnung vorhandene Foto-Archiv mit mehreren hundert Abzügen und dem Fundus von 360.000 Negativen für einen Betrag von 50.000 Euro. Ab den 1990er Jahren wurde RH auch museal wahrgenommen und wertgeschätzt. Das habe ihn sehr gefreut.
Museumsdirektorin Dr. Christine Vogt kann sich übrigens bildhaft vorstellen, wie sich RH ‘auf seiner Wolke sieben ein Auge zukneift ob seiner Wertschätzung heute. Im Kunstmarkt werden seine Bilder bis 800 Euro gehandelt.
Rudolf Holtappel, Selbstporträt, o.J. © Rudolf Holtappel, Nachlass LUDWIGGALERIE Schloss Oberhausen.
2007/2008 Neuaufnahme von Holtappel-Serien mit den Themen Arbeitssicherheit 1959, Siedlung,
Arbeit, Freizeit ins Pixelprojekt_Ruhrgebiet, einer Gründung von Peter Liedtke (Fotokünstler, Kurator, Galerist, Autor). Es handelt es sich dabei um „die digitale Sammlung fotografischer Positionen als regionales Gedächtnis“.
Zur Ausstellung gibt es einen Katalog mit Texten von Miriam Hüning, Stefanie Grebe, Thomas Dupke und Dr. Christine Vogt; 272 Seiten mit zahlreichen Fotos, Verlag Kettler.
Ausstellung
Ruhrgebietschronist Theaterdokumentarist Warenhausfotograf
Werkschau Rudolf Holtappel 1950 bis 2013
noch bis 6. September 2020
Ludwig Galerie Schloss Oberhausen
Text: Hartmut Bühler, Fotograf (DGPh); Düsseldorf