Im Streifzug der Woche: Die unbedingt sehenswerte und bis zum 28. Juni verlängerte Ausstellung 4100 Duisburg – Das letzte Jahrhundert von Laurenz Berges in Bottrop.
Zwischen Erscheinen obigen Texts im Katalog zur Pariser Weltausstellung 1878 und dem großen Strukturbruch am Ende des Nachkriegsbooms, der unsere heutige Wirklichkeit bestimmt, liegen recht genau einhundert Jahre. Von diesem Zeitraum handelt die unbedingt sehenswerte Ausstellung 4100 Duisburg – Das letzte Jahrhundert von Laurenz Berges im Bottroper Museum Quadrat.
In “The Road to Wigan Pier”, seinem Bericht aus einer Bergarbeiterstadt in Nordengland, lässt George Orwell seine Protagonisten ständig etwas machen, mit Intensität und Bestimmtheit produktiv sein. Fotografie des Ruhrgebiets möchte oft auch etwas machen. Gerne stellen sich ihre Autoren ohne Not in den Dienst wirkmächtiger übergeordneter Erzählinteressen von Metropol- und Kulturwerdung. Mit immer gleichen Mitteln und Bildern wird der hegemonialen Großfiktion vom erfolgreich gemeistertem Strukturwandel zugearbeitet, gelegentlich unterbrochen von plump illustrierter punktueller Empörung. Solche Bilder gibt es zu viele. Mich interessieren Fotos, die aus intensiver eigener Betrachtung entstehen: mit behutsamer Hartnäckigkeit gefundene bildliche Verdichtungen der Dinge. 4100 Duisburg von Laurenz Berges sind solche Fotos.
Zehn Jahre lang, ungefähr von 2010 bis heute, hat sich Berges mit einem relativ kleinen Bereich der Stadt Montan befasst. Entstanden sind Bilder eines langen Moments, ohne zeitlichen Verlauf, ohne Erzählung einer Entwicklung, von reiner Gegenwart und Ver-Gegenwärtigung. Noch langsamer als seine Beobachtung ist nur die Zeit selbst an diesem Ort. Die permanente Veränderung der Zustände als Signet von Produktivität und Globalisierung, hier findet sie nicht statt. Nichts ist neu: kein Straßenbelag, kein Haus, keine Klingel. Es gibt auch keine Autos, die eine zeitliche Einordnung zuließen. Viele werden diesen fremden Ort noch nie gesehen haben, andere ihn unmittelbar als unser Hier und Jetzt erkennen.
Es ist kein Zufall, dass dieses Hier und Jetzt aussieht, als wär es vor 30 oder 40 Jahren erstarrt: In den 1970ern bis 1990er verschwand der gesellschaftliche Konsens der Nachkriegszeit. Die Identität der Region blieb aber an dessen ungültig gewordenen Zukunftsentwürfe angeknüpft. Es sind Strukturen langer Dauer. In metallurgischen Prozessen entstehen Schlacken, irgendwann nicht weiter verwertbare Reste verbrauchten Materials, die aber trotzdem weiterexistieren. Diese Ausstellung zeigt die Schlackenhalden des Epochenbruchs. Das letzte Jahrhundert ist hier in seiner Permanenz zu besichtigen.
Wer wegen der allseits bekannten Ansicht des Matena-Tunnels auf Plakat und Buchcover ein nettes Potpourri aus lost places und imposanten Tafelbildern von Hüttenwerken und Denkmalkulissen erwartet, darf sich auf etwas gefasst machen. Nicht nur hängen weder das Titelbild noch andere übliche Motive in dieser Ausstellung. Auch ist nichts, was dort hängt, geeignet, eine positive Markenbotschaft zu vermitteln.
Wer flüchtig hinschaut, sieht vielleicht nur Behausung der Niedergeschlagenheit. Doch Berges vermeidet alles, was Fotos solcher Orte uninteressant oder ärgerlich macht. Es gibt keine flüchtig erhaschten Klischeebilder, kein verschämtes Wegschauen, Übertünchen, Verleugnen oder Entschuldigen, keine Häme, Abwertung oder Belustigung, und keine platte Symbolik, bedeutungsschwangere Aufladung oder triviales Inslichtzerren. Der Schrecken sitzt viel tiefer.
Unnachgiebig richtet Berges den Blick auf Materialität und Präsenz vergangener Zukunft, indem er verdichtende Details in einer Weise zeigt, die auf jahrelanges behutsames und reflektiertes Immernäherkommen an den Handlungsort schließen lässt, bis er sich in ihm mit respektvoller Distanzlosigkeit transparent bewegen und solche Verdichtungen erkennen kann.
Derart introspektiv aufgestellt, kann Berges erzählen, fast ohne auf Übersichtsbilder zurückzugreifen. Horizont ist auch auf diesen fast keiner zu sehen, und wenn, dann liegt der Rhein davor. Genauso unerreichbar fern die Kamine der wenigen Industrieanlagen mit ihren verbliebenen Arbeitsplätzen. Mit der Lebenswirklichkeit der Menschen hier haben sie nichts zu tun. Gleichzeitig lassen sich die Bilder reicher baulicher Verzierungen aus der Gründerzeit nicht lesen, ohne nach dem immer wieder neu auszuhandelnden Verhältnis von Kapital und Arbeit zu fragen.
Es wäre leicht, dieses Duisburg als romantische Zeitfalte darzustellen, in der sich von Erinnerung an ein vermeintlich besseres Früher ernährt wird. Doch in Nostalgie liegt auch die Erleichterung über dessen Überwindung, und hier ist nichts überwunden. Hier geht es um das blanke Sein. Berges gelingt es, diese existentielle Dimension ins Zentrum zu rücken, ohne seine Protagonisten weiter zu verraten.
Zu sehen sind kleine Eingriffe zum Fortsetzen des Existierens, Improvisationen und Überbrückungen. Ein nochmal geflickter Zaun, ein eingeklemmtes Handtuch, ein Kabel, mit dem aus dem Hausflur Strom in eine Wohnung abgezweigt wird. Es sind Operationen des Weiterlebens unter dem Diktat des immer kleiner werdenden Abstands zwischen Wirklichem und Möglichem.
Vom Betrachter erfordern die Bilder ähnlich genaues Hinsehen, wie es Berges vor Ort praktiziert hat. Die Wahl zumeist mittelgroßer Formate, Hängung, herausragende Printqualität und wie immer exzellente Ausstellungssituation im Museum Quadrat ermöglichen das. Wer sich diese Mühe macht, entdeckt auf einem Bild vielleicht die nur wenige Millimeter große Reflektion eines neonleuchtenden “Open”-Schilds in einer dunklen Fensterscheibe. 4100 Duisburg ist nicht tot, und darin liegt je nach Sichtweise die Zumutung: Die Erzählung von Strukturwandel als ein höchstens mit leichtem Ruckeln verbundenem, insgesamt aber beschaulichem Wechsel erstrebenswerter Kontinuitäten ist so nicht nur nicht haltbar, sondern stellt sich selbst als Operation des Weiterlebens heraus.
Positiv ausgedrückt kann die hier stattfindende doppelte Vermessung des Abstands zwischen Fotograf und Welt und Betrachter und Fotografie also zu einer Stärkung des Ambivalenzbewusstseins für die eigene Gegenwart führen.
Damit wäre auch der mögliche Vorwurf, Berges habe hauptsächlich dort fotografiert, wo Abriss bevorsteht, entkräftet. Er nutzt die Kraft der Fotografie für eine Gegenerzählung, die so wenig nur Duisburg ist, wie Robert Adams’ denver nur Denver ist. Alle Montan-Kernräume Westeuropas sehen so aus. Darin liegt das Universelle. Duisburgs Gegenstück in der Wallonie ist Seraing. Die Postleitzahl: 4100. ■

Besonders schöne Entdeckung: In einem der Schaukästen mit Berges’ Fundmaterial von Aufnahmeorten – Form des Ausdruck langer, naher Auseinandersetzung – ein aufgeschlagener MoMa-Katalog. Die Doppelseite zeigt ein Foto von Laurenz Berges ausgerechnet neben einem von Chauncey Hare. Dessen auf den ersten Blick ruhigen und nüchternen Innenaufnahmen amerikanischer Häuser und Wohnungen sind rot glühender Protest gegen die “am Ich vollzogenen Zurichtung” von Arbeitnehmern aller Ebenen (Günter Liehr, Kunstforum 41/1980) und könnten gar nicht besser zu 4100 Duisburg passen. Chauncey Hare blieb unbekannt, mehr zu ihm in einem künftigen Streifzug. Was von und über ihn veröffentlicht wurde, habe ich in diesem Verzeichnis zusammengestellt.
Text und Ausstellungsansichten: Haiko Hebig
Fotos: Laurenz Berges / VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Ausstellung: Laurenz Berges. 4100 Duisburg. Das letzte Jahrhundert im Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, bis zum 28. Juni 2020.
Pressemitteilung: Pressemitteilung zur Ausstellung (PDF)
Buch: Laurenz Berges. 4100 Duisburg im Verlag der Buchhandlung Walther König, mit Texten von Heinz Liesbrock und Thomas Weski, 168 Seiten, 84 Abbildungen, Hardcover, Leinen, 48 €.