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Fotografie als Waffe – Kann Fotografie die Welt verändern?

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Die Frage ist alt und Antworten heute vielschichtiger, uneindeutiger und vielleicht auch marginalisierter als je zuvor. Denn die „Sozialfotografie“, wie sie Roland Günter in seinem 1977 erschienen Buch* auffasste, ist überrollt und überschwemmt worden durch Digitalisierung, das Internet und eine Profanisierung, die jeden jederzeit zu Subjekt bzw. Objekt des fotografischen Tuns machen kann.

Günters Buch entstand im Umfeld des Kampfes um den Erhalt der traditionellen Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet, ausgehend von der Siedlung Eisenheim in Oberhausen. Ab Anfang der 70er Jahre engagierte sich dort Roland Günter mit weiteren Wissenschaftlern und den Betroffenen in einer der ersten Bürgerinitiativen gegen den Abriss der sog. Bergarbeiterkolonien.

Im Rückblick wirkt die Aktion wie die Initialzündung für das Entstehen der “Industriekultur“” im Ruhrgebiet: Nach dem Rückgang der Montanindustrie erfand die Region sich neu – und schaffte den sog. Strukturwandel auch und gerade, weil die alten Stätten der Arbeit nicht entwertet, sondern “umdefiniert” wurden: Statt Maloche Kultur in Industriekathedralen, statt Abraumhalden Berge mit Kunstereignissen obendrauf, statt Arbeitersiedlungen Eigenheime mit Gartenzaun.

Sozialfotografie ergreift Partei

Roland Günter hatte etwas anderes im Sinn: Sozialfotografie ergreift Partei – für die marginalisierten Bewohner der Siedlungen, für die vom Arbeitsplatz-Abbau Betroffenen. Ihre Gegenwehr gegen die Zerstörung von Wohnraum und der vertrauten Lebenswelt benutzt die Fotografie als Waffe.

Sichtbarer Ausdruck ist das Buch “Rettet Eisenheim”, erschienen 1972. Günter nennt das Buch eine “Sozialdokumentation über das Leben von Bergarbeitern in ihrer Siedlung – mit Fotos, Aussagen der Arbeiter, Texten von Wissenschaftlern”**. Der Band ist das Ergebnis eines Projektes von Studenten und Dozenten der Fachhochschule Bielefeld. Anders als im Wissenschaftsbetrieb üblich, wollen die Wissenschaftler aus ihren Ergebnissen Schlussfolgerungen ziehen und zum Handeln anstiften – “das Buch als Waffe benutzen”.

In diesem wie auch in den folgenden Büchern werden Die Betroffenen zu Autoren. Sie bestimmen (mit), was veröffentlicht wird, produzieren die Fotos im Idealfall selber und benutzen Buch und Fotos, um für ihr Anliegen zu demonstrieren. Besonders Interessierte organisieren sich als “Arbeiterfotografen” in Gruppen. Es entsteht eine bundesweite Bewegung, die die Arbeit im Hamburger Hafen dokumentiert, Umweltzerstörung anklagt und die Proteste gegen Atomkraft begleitet.

Ohne technische Hürde zum veröffentlichungsreifen Foto

Die fotografierenden Laien werden von Fotografen und Kunsterziehern angeleitet, um Bilder für die Veröffentlichung zu produzieren – eine Voraussetzung, die heute gnadenlos entfällt. Die technische Hürde Dunkelkammer ist verschwunden. Jeder kann mit seinem Smartphone ein Foto schießen und es unmittelbar danach veröffentlichen, sichtbar für ein namenloses, unzähliges Publikum.

Ist diese Fotografie in Günters Sinne unwirksam? Sind die wackeligen Fotos und Videosequenzen, die anlässlich von Terroranschlägen, Unfällen und Katastrophen entstehen und über alle Kanäle verbreitet werden (auch in den sog. Qualitätsmedien) belanglos? Offensichtlich nicht.

Fotografie in Günters Sinne zeigt Arbeit und Alltag, Menschen und ihr normales Tun, die Bedrohung ihrer Lebenswelt und ihren Protest dagegen – rauh und ungeschönt, schwarz-weiß und direkt. Auch die Fotos auf Facebook, Instagram und Co. zeigen die Alltag ihrer Autorinnen und Autoren – oft genug gestylt und für den momentanen Effekt gemacht. Haben sie deswegen keine Wirkung?

Offensichtlich bedeuten sie vielen Menschen etwas, sonst würden sich nicht Millionen damit beschäftigen, die Fotos zu machen, hochzuladen und anzuschauen. Was dieses “Etwas an Bedeutung” genau ist, darüber gibt es viele, eher abschätzige Meinungen. In den 70er Jahren war es unvorstellbar, dass Fotografieren zu einer alltäglichen Handlung werden würde, so wie Kaffeekochen.

Kann Fotografie unter diesen Umständen Waffe sein und gesellschaftliche Veränderungen bewirken im Sinne von Fortschritt und Gerechtigkeit?

Es gibt ja auch noch die Autorenfotografie – den Profi , der oder die mit profunder Hochschulausbildung im Rücken ihr oder sein sozialkritisches Projekt erarbeitet und als Serie für Ausstellungen produziert oder als Fotoreporter vor Ort schießt und in den Medien veröffentlicht. Ist diese Fotografie Waffe zur Weltverbesserung?

Das Foto des dreijährigen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum, aufgenommen am 2. September 2015 von der türkischen Fotojournalistin Nilüfer Demir, war es bestimmt. Das Grauen des Syrienkrieges und der Flüchtlingskrise, für das der Körper des unschuldigen, toten Kindes steht, haben viele bis heute nicht vergessen und war Anlass für Hilfsbereitschaft und politisches Handeln – auch auf Regierungsebene.

Selber können – selber verstehen – selber beherrschen

Was von Günters Ansatz unverändert bleibt, ist der Gedanke der Selbstermächtigung. Und der erscheint dringender als je zuvor. Wollen wir der Bilderflut nicht gedanken- und alternativlos ausgeliefert sein, müssen wir sie verstehen. Warum sind Fotos (und Videos) nur scheinbar Abbilder der Wirklichkeit? Warum empfinde ich das eine Bild als gelungen und das andere nicht? Was genau kann ich eigentlich verändern mit Photoshop und wie erkenne ich die Manipulation? Vielleicht kann ich mit Hilfe von Fotos meine Lebenswelt besser erforschen als mit Hilfe von Texten?

Fotografie ist nicht nur Nebenbei-Beschäftigung und neues Medium für Klatsch und Tratsch. Sie ist eine wirkmächtige Waffe im gesellschaftlichen Diskurs. Fotografie zu “beherrschen” ist so wichtig, wie Lesen und Schreiben zu können.

Text: Martina Kötters

* Günter, Roland: Fotografie als Waffe. Geschichte der sozialdokumentarischen Fotografie, Hamburg/Westberlin 1977
** ebenda, Seite 110


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