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Parallelwelten – eine Fotoausstellung in Gelsenkirchen stellt unbequeme Fragen

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Jedes dritte Kind in NRW von Armut betroffen

Kinderarmut ist eine Schande, stellt eine Verletzung der Menschenwürde dar. Nicht nur in Deutschland, dem angeblich viertreichsten Land der Erde. Hierzulande leben viel zu viele Kinder in Armut, allein im Ruhrgebiet sind es laut UNICEF 35 Prozent. Tendenz steigend. Die Fotoausstellung “Parallelwelten” zur Kinderarmut in Deutschland im Wissenschaftspark Gelsenkirchen stellt unbequeme Fragen und zeigt 129 Bilder zum Thema.

Warum soll ich von Düsseldorf ins wirtschaftlich gebeutelte Gelsenkirchen fahren und mir dort eine alles andere als glamouröse Fotoausstellung über Kinderarmut ansehen? In der Landeshauptstadt sehe ich derzeit Hochglanzbilder von Kameraheroen wie Peter Lindbergh und Martin Schoeller. In Gelsenkirchen dagegen gibt es keine sexy Star-Fotograf*Innen und das Sujet ist keinesfalls stimmungsfördernd.

Also, warum in die Ruhrgebietsgroßstadt fahren? Weil dort eine Fotoausstellung gezeigt wird, die auch in Düsseldorf sehr ernst genommen werden sollte. Denn Kinderarmut gibt es auch in Kö-City.

aus der Serie von Yolanda vom Hagen

Dies dokumentiert die 1982 in Düsseldorf geborene Yolanda vom Hagen eindrucksvoll. Die heute in Shanghai erfolgreiche Fotografin erlebte in Düsseldorf-Flingern eine dramatische Kindheit inmitten wirtschaftlicher Not und seelischer Einsam- wie Grausamkeit. In einer ergreifenden Selbsttherapie – eine fotografische Szenenfolge mit handschriftlichen Erinnerungen – verarbeitet sie ihre Kindheitstraumata.

aus der Serie von Sümeyye Esen und anderen

aus der Serie von Sümeyye Esen und anderen

Kinderarmut fotografiert mit und durch Kinderaugen: damit warten Sümeyye Esen, Janne Fresia und Marlene Schmitt auf. Die Schülerinnen der Klasse 7b des Hölderlin Gymnasiums Köln erstellten eine ‘Digitale Visualisierung von persönlichen Stellungnahmen’ zur Kinderarmut, frei von Klischees. – Sehriban Gezer, Firuze Gezgin, Elise Han, Meryem Temel und Lina Walter, Schülerinnen der Klasse 9b vom gleichen Gymnasium zeigen Portraits, in denen sie durch Mimik und Gesten Stellung zur Kinderarmut beziehen. Beide Serien beziehen sich auf Arbeiten und Bildmontagen der Fotojournalistin Alice Martins.

Aus der Serie "Arche" von Roland Wilbert.

Aus der Serie “Arche” von Roland Wilbert.

Kinderportraits hat Roland Willaert (*1950 in NL-Kirkrade) in der Arche in Berlin fotografiert. Die sechs Augenpaare in schwarzweiß scheinen den Betrachter fast hypnotisieren zu wollen, Armut ist nicht direkt auf ihre ‘Stirn geschrieben’. Das Wissen darum erstellt sich erst im Kontext des Aufnahmeortes. Willaert: „Der Staat rechnet damit, dass ein Teil seiner Verantwortung übernommen wird von Organisationen wie Die Arche und Die Tafel, die nur von Spenden leben. Eine Schande für das reiche Deutschland.“

Fest steht: „Keines der von Armut betroffenen Kinder ist für dieses Schicksal selbst verantwortlich und ein jedes hat ein besseres Leben verdient. Fotografie hat nicht die Möglichkeit, Zahlen zu belegen, kann aber dafür sorgen, dass man ein Gefühl dafür bekommt, was dieses Schicksal für jedes einzelne Kind bedeuten kann. Fotografie kann emotionalisieren, zum Denken anregen, den Diskurs befeuern und im besten Fall zum Handeln animieren“, sagt Peter Liedtke, Pixelprojekt-Leiter und Initiator der Ausstellung.

Insgesamt sind es 15 Fotograf*Innen und die o. g. Schüler*Innen, die sich mit unterschiedlichen journalistischen und/oder dokumentarischen Ansätzen den „Parallelwelten“ genähert haben. Und ‘Armut’ läßt sich in den Fotos nicht immer zwingend erkennen.

Aus der Serie von Jürgen Nobel.

Aus der Serie von Jürgen Nobel.

In Jürgen Nobels Kinderportraits schon gar nicht. Er hat Kinder fotografiert in einer Schule in Bochum-Wattenscheid, mit denen er ihre Berufswünsche inszeniert hat. Diese Serie zeigt nur die Berufswünsche. Aber dadurch, dass sie in den Kontext der Ausstellung mit Arbeiten zur Kinderarmut gestellt wird, wird bewusst: Das sind Kinder im Ruhrgebiet, wo mehr als 35 Prozent aller Kinder von Armut betroffen sind. Jedes dritte also. Eigentlich hätten sie alle die gleiche Zukunft, und dennoch haben sie häufig eben nicht die gleiche Zukunft.

Aus der Serie "Vom plötzlichen Erwachsenenwerden" von Tamara Eckhardt.

Aus der Serie “Vom plötzlichen Erwachsenenwerden” von Tamara Eckhardt.

Zur Serie von Tamara Eckhard mit dem Ausstellungsplakatmotiv Mutter, Baby und Katze. Die Serie Vom plötzlichen Erwachsenwerden entstand 2018 in Berlins Randbezirk Marzahn-Hellersdorf. Mit Müttern von 16 bis 21 Jahren. Eckhards ästhetische Fotos werden ergänzt durch Briefe der Heranwachsenden mit ihren Wünschen und Hoffnungen sowie Detailfotos von schadhaften Zimmern und Interieurdetails. Und tristen Ausblicken aus riesigen Wohnblocks. Übrigens, das Plakatmotiv zur Ausstellung verbindet der Betrachter auch nicht auf den ersten Blick mit Armut.

Aus der Serie "Kinderarmut in Mülheim" von Harald Hoffmann.

Aus der Serie “Kinderarmut in Mülheim” von Harald Hoffmann.

Harald Hoffmann (*1957 in Essen) fotografierte in Mülheim an der Ruhr, das einmal die reichste Stadt im Ruhrgebiet war. Heute ist dort jedes dritte Kind arm, ein trauriger Rekord deutschlandweit. Hoffmann, der sich vor allem mit Klassikmusiker*Innenportraits einen Namen machte, erstellte seine Serie Kinderwelten im Auftrag des Diakonischen Werks. Zwei Fotos stechen besonders aus den bedrückenden Bildern heraus: das mit einem trotzig-selbstbewußten Jungen und eines, das Kinderkleidung zum Preis von zwei bzw. drei Euro zeigt.

Schockierend die Frage von Sascha aus der Serie Verein Kindernöte in Chorweiler, der erstmals mit Sozialbetreuern und mit der S-Bahn an den Rhein fuhr: „Ist das das Meer?“ Manche der Kinder, die Selina Pfrüner (*1982 in Freiburg) im nördlichsten Kölner Stadtbezirk fotografierte, hatten noch nie den elf Kilometer Luftlinie entfernten Kölner Dom aus der Nähe gesehen.

Aus der Serie "Köln Chorweiler" von Selina Pfrüner.

Aus der Serie “Köln Chorweiler” von Selina Pfrüner.

Formal bemerkenswert sind die Fotos von Frank B. Napierala (*1952 in Duisburg), der 1972 einen von der AWO Duisburg betreuten sozialen Brennpunkt in Duisburgs Norden, im ‘Gleisdreieck’, mit seiner ‘Würfelkamera’ dokumentierte. Der damals 20jährige Fotograf war inspiriert vom US-amerikanischen Fotoprojekt Farm Security Administration (1935-44), das man den ausdrucksstarken Bildern anmerkt.

Ungewöhnlich auch Guntram Walters (*1963 in Hagen) Serie o. T., die ohne Anwesenheit realer Akteure schaudern läßt. Spannend Uli Webers (*1960 in Rheydt) Szenen von tristen inoffiziellen Kinderspielplätzen in Duisburg-Bruckhausen.

Diese Zeilen beinhalten keine Wertungen der stärksten Bildautor*Innen zum Thema Kinderarmut Entscheidend ist nur, dass die Fotos ein politisches Klima erzeugen, „das eine Hinwendung zur Sicherung von Lebensperspektiven für alle Kinder fördert“.

Interview mit Kurator Peter Liedtke von Judith Heitkamp:
Bayrischer Rundfunkt – Interview

“Parallelwelten. Kinderarmut – Was hinter Statistiken verborgen bleibt”

bis zum 9. Mai 2020
Wissenschaftspark Gelsenkirchen
www.wipage.de

Text: Hartmut Bühler, Fotograf


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