43 Jahre nach ihrem Entstehen – ja, die Motive von Michael Wolf sind auch heute noch große Klasse. Sie sind an- und berührend, humorvoll, fein beobachtet. Entstanden sind sie für seine Examensarbeit “Die Lebensbedingungen einer Bergmannssiedlung am Beispiel von Bottrop-Ebel 76”, betreut von den Folkwangschule-Professoren Otto Steinert und Lutz Niethammer.
Die Serie zeigt Bilder, die Wolf 1976 gemacht hatte, als er für einige Monate in Ebel lebte. Sie ist ein Blick auf das Leben in Ebel aus der Nahsicht: Arbeit und Privates gehen ‘Hand in Hand’. Getragen von einem soziologisch-dokumentarischen Impetus, wählt sie zugleich ihre künstlerischen Mittel sorgfältig.

© Michael Wolf / Fotoarchiv Ruhr Museum, Essen
Wolf war mit der Kamera auch unter Tage: das analoge Filmkorn von damals korrespondiert mit dem Staub der Kohle. Diverse Ausstellungsfotos im Museum Quadrat gibt es in unterschiedlichen Größen und Ausarbeitungen: als Ausbelichtungen von digitalisierten Negativen und als Vintage-Prints der historischen Bildserie, aufgezogen im typischen “Steinert-Format”.
Während die Modern Prints durch einen Reichtum an Grautönen und Durchzeichnung bestechen, sind die Vintages wesentlich kontrastreicher und kraftvoller. Welcher Stil „richtiger“ ist, ist nur schwer zu beantworten. Aber auf jeden Fall sind die Modern Prints von Michael abgenommen und authorisiert. Ein direkter Vergleich von Digitalprints und Analogabzügen ist also möglich. Er wird aber beeinträchtigt durch Raumwechsel und unterschiedliche Helligkeitsverhältnisse – die Vintages als unwiederherstellbare „Originale“ hängen verdunkelt.

© Michael Wolf / Fotoarchiv Ruhr Museum, Essen
Museumsdirektor Dr. Heinz Liesbrock berichtet, dass Wolf Jahrzehnte darauf gewartet hat, die Bilder im Quadrat Bottrop ausstellen zu dürfen, aber von sich aus nie aufs Museum zugehen wollte. Bis dann das Museum handelte, weil die Bilder ”eminent historisch” geworden seien und ”eine andere Geschwindigkeit, andere Lebensformen als heute” zeigen.
Sehr informativ ist der Begleittext zum Katalog von 2012 von Dr. Sigrid Schneider, der ehemaligen Leiterin des Fotoarchivs im Ruhrmuseum Essen. “Ich bin extrem neugierig auf Menschen”, so Wolf.
Im Fotoarchiv des Ruhrmuseums in Essen lagern 283 Abzüge in Schwarzweiß und zwölf in Farbe. Wie damals üblich präsentiert einzeln und in Paaren auf Karton kaschiert und gegliedert in Gruppen mit Zwischentiteln wie Jugendliche, Rentner, Arbeitende Bevölkerung, Freizeit, Fest und Vereine. Die wenigen Farbfotos des Kapitels Interieurs lassen uns Betrachter in diverse Wohn- und Schlafzimmer blicken und sind angesichts von Steinerts Vorliebe für Schwarzweiß ungewöhnlich.

© Michael Wolf / Fotoarchiv Ruhr Museum, Essen
Mich haben fast alle seiner Bilder begeistert: bewegend das Foto zweier alter Frauen, wo die eine die andere beim Essen hilft. Und über dem Bett ein Bild von Jesus mit Lamm. Einige Bilder zeigen hart arbeitende Frauen, Frauen die miteinander tanzen oder einander mit ´nem Likörchen zuprosten. Überhaupt scheinen Alt und Jung beiderlei Geschlechts gerne den Staub in der Kehle mit Gerstensaft oder einem Doppelkorn hinuntergespült zu haben.
Wolf zeigt uns auch den Fuhrpark der langhaarigen ‘Gammler’-Jugend, die Kreidler Florett oder die Favoriten der Eltern – den ‘Badewannen’-Ford. Apropos Badewanne: während die Frau eines Bergarbeiters frischen Filterkaffee brüht in der Küche, wäscht sich der gleichzeitig auch dort im Zinnzuber – vis-à-vis der fürsorglichen Gattin. Und Integration wurde bereits 1976 gelebt: der Besuch beim betenden türkischen Zechenkumpel und seiner Familie ist ein Vorzeigebeispiel friedlicher Nachbarschaft.

© Michael Wolf / Fotoarchiv Ruhr Museum, Essen
Beeindruckend auch diese Fotos: von Familienfeiern, von Jubiläen, vom Karneval, von Bergwerkslehrlingen bei der Frühstückspause, vom Schweineschlachten im Hof, vom Schwatz auf der Straße, vom Busausflug mit Schnapsausschank, vom Knutschen in der Kellerdisco, vom ersten ‘Rausch’, der ersten Zigarette, der Einschulung – Wolf zeigt das echte Leben im Pott vor vier Jahrzehnten. Dass der Katalog darüber hinaus noch zahlreiche weitere ‘Schätzchen’ bereithält, darf gerne als Kaufoption interpretiert werden.

© Michael Wolf / Fotoarchiv Ruhr Museum, Essen
Fotograf Wolf (*1954 in München) wuchs in Kalifornien auf, studierte in Berkeley und an der Folkwangschule in Essen. 1994 ging er für das Magazin stern als Fotoreporter nach Hongkong. Wolf lebte zehn Jahre in China. Seit einigen Jahren lebt er mit seiner Familie in Paris. Er arbeitet als freier Fotograf.
2005 erhielt MW einen World Press Photo Award in der Kategorie Contemporary Issues Stories. Nach seiner Reihe von U-Bahn- und Hochhaus-Bildern aus Tokio und Hongkong veröffentlichte er 2011 seine von Google Street View abfotografierten, stark vergrößerten Bildausschnitte von Zufallsfunden.
Für seine Serie von zufälligen Ereignissen auf Google-Street-View-Bildern erhielt er 2011 beim World Press Photo Award eine ehrenvolle Erwähnung.
Wolf ist ein sanfter, nie penetrant auftretender Voyeur. Hätte es 1976 schon Google Street View-Aufnahmen im Web gegeben, was hätte er neben seinen edlen Ebel-Fotos nicht noch entdeckt?
Übrigens, wer sich ein Detail das Katalogtitelmotivs aus nächster Nähe betrachtet, dem widerfährt eine Art Google-Street-View-Dèjá-vu. Rechts neben der Leiter geht eine Frau: Wer jetzt aufs Kopftuch zoomt, der glaubt stattdessen das Haupt eines Startroopers aus der Krieg der Sterne-Filmreihe zu erkennen. Der erste Teil von Star Wars kam 1977 in die Kinos.
Selbstverständlich hat sich in den 43 Jahren nach dem Wolf-Besuch viel verändert: es gibt in Ebel Lärmschutzwände und Neubauten, die Luftqualität hat sich verbessert, das Klärwerk ist stillgelegt, die Zeche Prosper ist nicht mehr, das Leben ohne Kohle hat längst begonnen.
So, und jetzt wird gemosert, trotz Begeisterung ob der Wolf-Motive – Museen und Galerien:
Hört endlich auf mit den fotografischen Rückschauen. Zeigt lieber Ausstellungen mit aktuellen Revierthemen. Das Ruhrgebiet zählt mehr als fünf Millionen Menschen: spannende Fotoserien liegen ganz bestimmt ‘brach’ und sind es wert, gezeigt zu werden.
Text: Hartmut Bühler
Kooperationspartner der Ausstellung ist das Fotoarchiv Ruhr Museum, Essen.
bis 19. Mai
Josef Albers Museum Quadrat Bottrop
Im Stadtgarten 20, 46236 Bottrop
Dienstag bis Samstag
11 – 17 Uhr
Sonn- und Feiertage
10 – 17 Uhr
montags geschlossen
Der Eintritt in die Sammlungen (Josef Albers, Ur- und Ortsgeschichte) ist gratis.
Der Wolf-Katalog im Schuber kostet 40 €uro.