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Die Konflikte der Welt sind näher gerückt

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Seit 2003 organisiere ich im Wissenschaftspark-Gelsenkirchen Fotografieausstellungen. Fotografie ist aktuell nicht nur das Leitmedium in der bildenden Kunst, es hat auch als Medium, das die Erscheinungen der Welt zeigt, dokumentiert und interpretiert eine besondere Bedeutung für die Information und Meinungsbildung einer breiten Öffentlichkeit.

Dabei kann oder muss Kunst vielleicht auch unbequem sein, sollte meines Erachtens jedoch immer auch die gesellschaftliche Entwicklung fördern. So habe ich in Ausstellungen bisher nicht nur die Schönheit der Welt gezeigt, sondern auch Themen wie Armut im Ruhrgebiet, die Stricherszene in Dortmund, kriegsverletzte Kinder und deren Behandlung, Demenz, Müllsammler in Indien, Tchernobyl, kriegsverletzte US Soldaten oder auch „Datenschutz in Zeiten von Facebook“ in den öffentlichen Diskurs gebracht. Diese Ausstellungen waren immer künstlerisch und zur Auseinandersetzung anregend. Bewusst habe ich keine reinen Informationsausstellungen gemacht und Begriffe wie Werbung oder Propaganda sind mir fern.

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Auch die aktuelle Fotoausstellung: „Die 40 Tage des Musa Dagh“ und „Exodus / Nagorno Karabakh“ – Fotografien von Fatih Kurceren verfolgt keinerlei Parteinahme. Vielmehr zeigt es eine persönliche Spurensuche des Oberhausener Fotografen Fatih Kurceren, der in der Türkei geboren und aufgewachsen ist. Ziel der Ausstellung ist es ausdrücklich nicht, eine objektive Darstellung der historischen Ereignisse zu geben. Die Ausstellung zeigt Landschaften, Städte und Menschen, die aktuell am Musa Dagh und in der Konfliktregion Bergkarabach leben. Sowohl dem Fotografen als auch mir ist es bewusst, dass es sowohl eine Vertreibung von Aserbaidschanern als auch von Armeniern gegeben hat. Und auch für uns steht es außer Frage, dass die Region Bergkarabach international anerkanntes Staatsgebiet der Republik Aserbaidschans ist. Doch ergibt sich allein aus dieser völkerrechtlichen Feststellung keine Lösung des bestehenden Konfliktes.

Fatih Kurceren ist ein renommierter deutscher Fotograf. Er ist aufgewachsen in Istanbul und hat in Ankara Germanistik studiert. Doch sein Herz schlug immer für die Kunst. So hat er sich schließlich an der renommierten Essener Folkwangschule beworben, wurde angenommen und beendete 2013dort sein Studium mit der hier gezeigten Arbeit zum Musa Dagh. Er wurde mit einer Porträtserie über Türken und einer weiteren Serie zum Schlachtfest in Marxloh in die Sammlung des Pixelprojekt_Ruhrgebiet aufgenommen. In diesem Jahr wurde er wegen seiner Verdienste um die Photographie in die DGPh (Deutsche Gesellschaft für Photographie) aufgenommen.

Fatih Kurceren Foto: Max Schulz

Fatih Kurceren Foto: Max Schulz

Fatih Kurceren hat sich als geborener Türke – nachdem er den 800 seitigen Roman von Franz Werfel gelesen hatte – auch mit der unrühmlichen Geschichte seines Heimatvolkes auseinandergesetzt. (Vielleicht so wie wir und allen voran deutsche Intellektuelle die Auseinandersetzung mit dem Holocaust geführt haben). Bis zu dem Roman hatte er nicht wirklich viel von der türkisch armenischen Geschichte gewusst. Diese wurde auch nicht an den Schulen oder in der Gesellschaft aufgearbeitet und wird sogar bis heute von der türkischen Regierung bestritten. Nun aber erbrannte in ihm der Wunsch nach Wissen. Und nun als Deutscher und in Oberhausen lebend konnte er auch Stellung zum Völkermord an den Armeniern beziehen. In der Türkei wäre er mit einer solchen Aussage wahrscheinlich ins Gefängnis gekommen und die öffentliche Ausstellung einer solchen Arbeit wäre in der Türkei sicherlich auch kaum möglich gewesen.

Für 2 mal 2 Wochen fuhr Fatih zum Musa Dagh – dem Mosesberg – im Nurgebirge im Süden der Türkei. Hier suchte er nach den Spuren einer vergangenen Zeit und schuf assoziative Bilder, die weit über ein „So sieht es aus“ hinausgehen. Die Bilder beschreiben den Ort, an dem sich 1915 4.058 Armenier gegen eine Gefangennahme und Ermordung durch die Regierung des damaligen osmanischen Reiches verschanzt hatten und schließlich durch glückliche Umstände im letzten Augenblick durch das Eintreffen eines französischen Flottenverbandes gerettet werden konnten.

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Auf dem Weg nach Musa Dagh / Ansicht aus dem Zugfenster

Viele der Bilder sind auf den ersten Blick schön, oftmals auch morbide und in einer angenehmen warmen Farbigkeit und doch gibt es immer wieder auch Zeichen, die das malerisch poetische brechen, wie bei den Lorbeersammlern und dem Mann im Kampfanzug auf einem Pferd in den Bergen. Oder dem Pferdeskelett in der Landschaft. Oder, besonders in der Arbeit zu Nagorny Karabach, den Einschusslöchern in Gebäuden. Alles sehr harmlose Bilder mit einer großartigen assoziativen Kraft. Seine Landschaftsbilder zeigen eine Weite und Schönheit, die zugleich aber auch rauh, karg und wenig fruchtbar wirkt. Den Menschen tritt er mit Respekt entgegen und diese schauen offen zurück, von den Sorgen des Alltags gezeichnet und doch stolz und stark. Gerade diese hier sichtbare sehr zurückhaltende stille Bildsprache des Fotografen, der dennoch seine Bilder auf den Punkt bringt, zeichnen ihn aus. Und all die kleinen Details am Rande haben Bedeutung zur Entschlüsselung eines uns unvertrauten Lebenszusammenhangs 4000 km entfernt von Gelsenkirchen. Nah und Fern zugleich.

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Ein junger Armenier aus dem letzten armenischen Dorf Vakifli in der Türkei

In Folge zu der Arbeit am Musa Dagh und auch getrieben von der Frage „wie geht es den Armeniern heute in den Ländern, in die sie geflohen waren“ stellte er einen Förderantrag bei der Stiftung der VG BildKunst und erhielt auch sofort ein entsprechendes Projektstipendium. Die VG BildKunst fördert Fotoarbeiten von gesellschaftlicher Relevanz.

Armenier waren in Folge des Völkermords unter anderem auch nach Syrien geflohen.

Aktuell jetzt hört die Flüchtlingswelle aus Syrien nicht auf und wenn wir die täglichen Meldungen aus Aleppo hören, wissen wir auch warum. Viele Armenier flohen nun aus Syrien zurück in ihre alte Heimat Bergkarabach, einer mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region im Südosten des Kleinen Kaukasus, welche zwischen Armenien und Aserbaidschan umstritten ist. Hier spricht man die eigene Sprache und fühlt sich in Sicherheit.

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Eine Frau aus dem armenischem Dorf Vakifli

Bevor ich mich entschlossen hatte, diese Ausstellung zu zeigen und mit der großen Flüchtlingswelle im vergangenen Jahr sind viele Regionen nah an Deutschland gerückt, wusste ich weder wo Armenien noch wo Aserbaidschan ist. Von Bergkarabach hatte ich gleichwohl gehört. Und nun habe ich und auch Sie – dank dieser Ausstellung – ein Bild dieser Region. Vielleicht führt dieses Bild auch bei Ihnen dazu, sich mit der Problematik rund um Bergkarabach auseinanderzusetzen, denn seit dem vergangenen Jahr sind alle Konflikte an den Grenzen Europas näher gerückt und sie verschwinden auch nicht nach dem Ende der 20 Uhr Tagessschau.

(Text: Peter Liedtke, Fotos Fatih Kurceren)

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Zerstörter Wohnblock in Schuscha

 

13.10.2016 – 14.1.2017

Mo.-Fr. 6-19 Uhr, Sa. 7:30-17 Uhr

Wissenschaftspark Gelsenkirchen

Munscheidstr. 14

45886 Gelsenkirchen

www.bildsprachen.de


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